Herzensbildung für Jung und Alt

Das Bayerische Staatsorchester:
Im Bereich der Bildungsarbeit seit Jahrzehnten in der ersten Liga.


von Christian Geltinger


Die Geschichte des Bayerischen Staatsorchesters liest sich wie der Prozess einer kontinuierlichen Weiterentwicklung. Dieses Selbstverständnis korrespondiert mit dem Geist der Renaissance, in dem vor 500 Jahren mit der Münchner Hofkantorei die Vorläuferin des Bayerischen Staatsorchesters gegründet wurde. Die Orchester, die sich damals aus dem Hoheitsbereich der Kirche lösten, erfuhren eine deutliche Professionalisierung und wurden zum Aushängeschild der Höfe als geistig-kulturelle Zentren einer Stadt. In München vollzog sich dieser Strukturwandel nicht zufällig in einer Zeit, in der die bis dahin auf der bayerischen Landkarte eher unbedeutende spätere Landeshauptstadt an politischem Gewicht gewann. Musik wurde immer mehr zu einem Mittel gesellschaftlicher oder zumindest höfischer Repräsentanz, zu einem Medium, in dem sich eine Gesellschaft widerspiegelt. Im gemeinsamen Vollzug, im Fest, im Konzert, im Musizieren und Zuhören, konstituierte sich Gesellschaft.

Die Bedeutung von Kunst und Musik wird für das Zusammenleben in einer von Krisen und Kriegen verunsicherten, den Gesetzen des Pragmatismus und der Selbstoptimierung unterworfenen Gesellschaft immer wichtiger. Das zeigt sich insbesondere auf dem Gebiet der kulturellen Bildung, die in den letzten Jahrzehnten zunehmend zur Kernaufgabe vieler Opern- und Konzerthäuser geworden ist. Hier dürfen die Bayerische Staatsoper und das Bayerische Staatsorchester, die sich seit etwa zwanzig Jahren diesem Thema verstärkt widmen, als Vorreiter gelten. Auch für den Bereich der musikalischen Bildung steht ein historisches Vorbild Pate, nämlich die Reihe der sogenannten „Musikalischen Akademien“, die das Bayerische Staatsorchester in eigener Verantwortung ausrichtet. Hintergrund ist nicht zuletzt ein wechselseitiger pädagogischer Effekt. Der Oper als bislang höfischer Kunstform stellten die Mitglieder des Hoforchesters das Konzert gegenüber, in dem nun das Orchester im Rampenlicht stehen konnte. Mit der damit einhergehenden Repertoireerweiterung vollzog sich gleichzeitig eine Öffnung für neue Zuschauerschichten. Damit waren die Konzerte der „Musikalischen Akademie“ letztlich auch die ersten Bildungsveranstaltungen des Orchesters. So genießt das Bayerische Staatsorchester bis heute den Ruf als erstklassiges Opern- und Konzertorchester.

Es ist also nur konsequent, wenn sich ATTACCA, das 2007 gegründete Jugendorchester des Bayerischen Staatsorchesters, auf die „Musikalische Akademie“ beruft. Freilich hat sich der Ausbildungscharakter gegenüber den autoritären Erziehungsmethoden des 19. Jahrhunderts deutlich verändert. Musik soll bei allem Anspruch auf Professionalität schließlich auch Freude machen. Der Umgang erfolgt daher auf Augenhöhe, und die Mitglieder des Bayerischen Staatsorchesters fungieren als Coaches für den musikalischen Nachwuchs. Ausgestattet mit den Tipps und Tricks vom Profi agiert ATTACCA bei den Tutti-Proben und Auftritten dann wieder als eigenständiges Orchester. Und diese Auftritte können sich sehen lassen. Das Orchester spielte regelmäßig bei den Open-Air-Konzerten Oper für alle, bei den Erlebniskonzerten der Bayerischen Staatsoper und bei Veranstaltungen der Heinz-Bosl-Stiftung. Es trat mit eigenen Programmen im Prinzregententheater auf und wurde zum Richard-Strauss-Festival nach Garmisch-Partenkirchen eingeladen. Zu Recht erhielt die Nachwuchsarbeit 2011 den ECHO KLASSIK Sonderpreis für das Projekt ATTACCA.

Während sich die Mitglieder von ATTACCA teilweise noch in der Findungsphase befinden – sie sind in einem Alter zwischen 12 und 18 Jahren – ist für die Musiker:innen der Hermann-Levi-Akademie der Weg bereits vorgezeichnet. Sie stehen an der Schwelle zum festen professionellen Engagement und können im Rahmen dieses Akademistenprogramms Erfahrungen in einem Profiorchester sammeln sowie ihre Repertoirekenntnisse erweitern. Das umfangreiche Ausbildungsprogramm, das die Akademist:innen erfahren, beinhaltet auch Aspekte, die zwar elementar sind für den Musikerberuf, aber dennoch lange Zeit unterschätzt wurden, wie etwa die mentale Vorbereitung auf diesen Beruf. Den Namen Hermann-Levi-Akademie erhielt die Akademie, die bereits 2002 gegründet wurde, im Jahr 2021. Damit ehrte das Bayerische Staatsorchester eine Dirigentenpersönlichkeit, die das Haus von 1872 bis 1896 entscheidend prägte. ATTACCA und die Hermann-Levi-Akademie stehen unverkennbar im Zeichen der musikalischen Nachwuchsförderung, um nicht zusagen der Elitenförderung. Das Bayerische Staatsorchester stößt mit seiner Bildungsarbeit jedoch noch in ganz andere Bereiche vor. Denn kulturelle Bildung sollte vor allen Dingen zweckfrei sein. Wer glaubt, man würde durch die Verabreichung sämtlicher Symphonien Mozarts eine Reihe neuer Wunderkinder hervorbringen, oder es würde zumindest eine bessere Mathenote dabei herausspringen, der ist auf dem Holzweg. Das Gleiche gilt für Theaterschaffende, die sich der Illusion hingeben, aus den Programmen für Kinder und Jugendliche ließe sich das Publikum von morgen rekrutieren. Keine Frage, positive Erlebnisse prägen sich ein und bauen eine erste Bindung auf. Der ökonomische Gedanke sollte dabei aber an letzter Stelle stehen.

Gerade in einer Gesellschaft, die immer diverser wird, ist es wichtig, Zugänge in der Breite zu schaffen. Musikalische Talente schlummern nicht nur in Familien, deren Elterngenerationen beispielsweise seit Jahrzehnten im Medizinerorchester spielen oder den Musikerberuf gar professionell ausüben. Daher ist es immer wichtiger, in die Schulen und bestenfalls auch in die Provinz zu gehen, wo man Kinder und Jugendliche aus allen Bildungsschichten erreicht. Das tut auch das Bayerische Staatsorchester. Ohne Berührungsängste verlassen die Musiker:innen ihren Elfenbeinturm. In der persönlichen Begegnung mit Instrumentalist:innen können Kinder und Jugendliche hautnah deren Enthusiasmus für die Musik erleben und erfahren, was es heißt, diesen Beruf professionell auszuüben. Für viele ist das sogar die erste Gelegenheit überhaupt, mit einem Instrument buchstäblich in Berührung zu kommen und sich von der Magie des Klangs anstecken zu lassen. Das Qualitätsbewusstsein, das vollkommen „unbelastete“ Kinder und Jugendliche bei diesen Begegnungen an den Tag legen, ist immer wieder faszinierend.

Und so dürfen sich die jüngsten Konzertbesucher:innen auf Sitzkissen tummeln, während die Musiker:innen von der großen Bühne auf das Garderobenfoyer wechseln und das Frackhemd gegen das bequeme T-Shirt tauschen. Kinder brauchen diesen geschützten Raum, in dem sie spielerisch mit Musik und Theater, mit sich selbst und ihren Gefühlen dabei in Berührung kommen können. Und das gilt für Erwachsene nicht weniger. Konzerte wie Oper für alle zeigen, wie wichtig es ist, mit den Menschen auf Tuchfühlung zu gehen. Kunst vollzieht sich da, wo sich Menschen, egal welchen Alters, begegnen, um sich gemeinsam berühren zu lassen. Alle lauschen derselben Musik, jeder fühlt etwas anderes. So entsteht Austausch. Und damit schließt sich auch der Bogen zu den Anfängen des Staatsorchesters. Die professionelle Pflege und Weitergabe einer jahrhundertealten Kulturpraxis, wie sie das Bayerische Staatsorchester ausübt, ist nicht nur identitätsstiftend für das Selbstverständnis eines Kulturraums, sie ist heute wichtiger denn je für die Herzensbildung einer Gesellschaft.



Bildnachweis: Frank Bloedhorn