Einer für alle, alle für Eines

Ein kurzer Blick in die traditionsreiche Geschichte
des Bayerischen Staatsorchesters zeigt:
Ein Orchester ist mehr als die Summe seiner Instrumente.


Holger Noltze



Zuerst mag man an Fußball denken, doch die Parole „Einer für alle …“ stammt aus Alexandre Dumas d. Ä. unverwüstlichem Roman Die drei Musketiere und somit aus der Zeit vor der Erfindung des Kicksports. In ihr drückt sich das rückhaltlose Eintreten des Individuums für sein Kollektiv aus, das Hintanstellen des Eigenen zugunsten des Allgemeinen. Dieser schöne Gedanke lässt sich mit beinahe noch größerer Berechtigung auf das Musikmachen im Ensemble beziehen. Beim Fußball zählen am Ende ja doch die Tore, es kommt also auf den Torschützen an. Und auch das Degenfechten ist wohl zuallererst eine solistische Disziplin.

Beim gemeinsamen Musizieren gilt eine tiefere Weisheit: Die eigene Exzellenz als Teil eines größeren Ganzen zu erkennen; zuhören können und sich, wo es sein muss, zurücknehmen. Das macht den Künstler im Kollektiv aus. An diesem heiklen Punkt entscheidet sich die Qualität eines Klang-Körpers. Aber das schließt den Reiz und das Prinzip kontrapunktischer Vielstimmigkeit eben nicht aus.

Dieses Prinzip steht prominent am Anfang der langen und ruhmreichen Geschichte des heutigen Bayerischen Staatsorchesters, der früheren Münchner Hofkapelle und – fünfhundert Jahre ist es her – der Münchner Kantorei. Denn mit der Berufung des glänzenden Polyphonikers Ludwig Senfl zum „Musicus intonator“ nach München beginnt 1523, was eine der längsten Orchestergeschichten der Welt werden sollte. Von Kunstsinn und Weitsicht geleitet war die Initiative des als Melancholiker geltenden Herzogs Albrecht V., einen weltläufigen Flamen namens Roland de Lassus, italianisiert Orlando di Lasso, 1556 als „Tenor secundus, Maestro della musica di camera“ und Hofkomponisten in die Hofkantorei zu holen. Er war Meister einer neuen vokalen und instrumentalen Kunst, die schon den Blick auf die fernen Horizonte der symphonischen Kunst öffnet. Eine lange Linie also bis zum Mischklangideal der Wagner-Musik. Der Münchner Hofkapelle gebührt der Ruhm, nicht nur Mozarts Idomeneo, sondern auch die musikgeschichtliche Zeitenwende des ersten Tristan, der ersten Meistersinger von Nürnberg vollzogen zu haben. Aber auch die Wende zu einer bürgerlich geprägten Musikkultur. Auf das Jahr 1811 datiert der Anfang der Tradition der „Akademie“-Konzerte symphonischer Musik, die das Orchester bis heute selbständig organisiert. Sie können schließlich nicht nur Oper. Es begann mit der D-Dur-Symphonie eines damals noch nicht sehr bekannten Komponisten namens Beethoven. Die Reihe großer und größter Namen derer, die dieses so besondere und langlebige Künstlerkollektiv leiteten – seit 1918 als „Bayerisches Staatsorchester“ – ist lang und reicht von Franz Lachner, Hans von Bülow, Hermann Levi, Richard Strauss bis zu Bruno Walter und Hans Knappertsbusch, weiter zu Georg Solti, Rudolf Kempe, Joseph Keilberth, Wolfgang Sawallisch, Zubin Mehta, zu Kent Nagano, Kirill Petrenko bis in die Gegenwart zu Vladimir Jurowski: eine beinahe einschüchternde Ehrentafel, über Jahrhunderte zurückreichend und mit Orlando di Lasso als Fluchtpunkt.
Zur Reichweite des Bayerischen Staatsorchesters tragen längst auch seine Reisen bei, ausgedehnte Tourneen etwa durch Europa und Asien; das besondere Zusammenspiel von langer Tradition und Bekenntnis zur Gegenwart erklingt in den großen Musikorten der Welt, in der Carnegie Hall, der Elbphilharmonie und in Luzern. Zum achten Mal in Folge und zum zehnten Mal insgesamt wurde der Klangkörper kürzlich bei der jährlichen Umfrage der Fachzeitschrift Opernwelt von 50 internationalen Musikkritikerinnen und -kritikern zum „Orchester des Jahres“ gewählt. Da ist der Wunsch naheliegend, das glücklich Gelungene auch festzuhalten, nämlich auf dem eigenen Label Bayerische Staatsoper Recordings, dessen erste Veröffentlichungen gleich mit renommierten Preisen bedacht wurden, darunter allein vier Gramophone Awards: Konserven mit Resonanz.

Wir sollten darüber aber nicht vergessen, dass die Wahrheit auch beim Musikmachen „auf dem Platz“ liegt. Die Einzelnen müssen es verstehen, sich dem Einen hinzugeben. Zumindest solange die Musik spielt.